Review: High-Rise

Klassenkampf im Hochhaus: In Ben Wheatleys Buchverfilmung „High-Rise“ gerät Tom Hiddleston zwischen die Fronten der oberen und unteren Etagen. Ein optisch und inhaltlich sehr außergewöhnliches Werk, das gesellschaftliche Entwicklungen in einem dystopischen Mikrokosmos zeigt.

 

Die rund 2.000 Bewohner eines Hochhauses schotten sich dank eines im Gebäude integrierten Supermarktes, Fitnessstudios und sonstigen Einrichtungen, für die man eigentlich raus auf die Straße müsste, komplett von der Außenwelt ab. Langsam aber sicher entsteht im Haus eine eigene soziale Ordnung, die sich völlig losgelöst von der restlichen Gesellschaft entwickelt. In den oberen Stockwerken lebt die Oberschicht, die protzige Partys feiert, die schönsten Wohnungen ihr Eigen nennen darf und über die Nutzungsrechte der Freizeitangebote entscheidet. Die Etagen absteigend werden die Einkünfte der Mieter und somit deren Einfluss auf die vorherrschenden Wohnverhältnisse geringer. Es kommt zum Klassenkampf im selbstgeschaffenen Mikrokosmos, der schlussendlich in Gewalt und Mord endet. Das ist die Prämisse des 1975 von J.G. Ballard geschriebenen Romans „High Rise“, der in Deutschland unter den Titeln „Der Block“ und „Hochhaus“ erschien und nun von Ben Wheatley verfilmt wurde.

 

Lobotomie an einem Hochhaus

 

Tom Hiddleston spielt Dr. Robert Laing, der ein Apartment in einer der mittleren Etagen bezogen hat. Im Laufe des Films gerät er somit zwischen die Fronten. Schließt er sich dem kultivierten Architekten des Gebäudes Anthony Royal (Jeremy Irons) oder dem etwas prolligeren Dokumentarfilmer Richard Wilder (Luke Evans) an. Extreme treffen aufeinander, Gut und Böse lassen sich im Laufe des Films nicht mehr klar und deutlich unterscheiden, denn irgendwie haben alle gleichermaßen Recht und Unrecht. Alle Figuren stellen Aspekte des menschlichen Seins dar, von denen sich niemand ganz freimachen kann: Leidenschaft, Materialismus, Freiheitswunsch, Sexualtrieb und Wahnsinn. Die Menschen sind Neuronen und das Haus ist das Gehirn, das alle zusammenhält. Wenn die obere Schicht davon spricht, die Bewohner der unteren Etagen auszutilgen und die freigewordenen Räumlichkeiten für die eigenen Zwecke zu nutzen, kann hier von einer Metapher für Lobotomie gesprochen werden. Bedankt man, dass einzelne Bewohner des Hauses die tatsächliche Durchtrennung von Nervenbahnen befürworten, um Persönlichkeitsänderungen ihrer Gegenspieler hervorzurufen, macht das Gleichnis aus der Nervenchirurgie noch mehr Sinn.

 

Der Film spielt Mitte der 70er Jahre in London und bedient sich entsprechend eindrucksvoll an der Ästhetik dieser Zeit. Die visuelle Wucht, die jedes einzelne Szenenbild innehat, ist beachtlich. Die Innenarchitektur ist akkurat auf diese Ära abgestimmt. Das eigentliche Hochhaus ist ebenso beeindruckend. Brutalismus trifft auf Strukturalismus und ragt wie ein Leuchtturm auf einem sonst leeren und nicht enden zu wollenden Betonplatz empor. Der einen oder anderen Aufnahme sieht man die Herkunft aus dem Computer zwar zu eindeutig an, der Faszination tut dies zum Glück keinen Abbruch. Clint Mansell, der für seine Arbeiten zu „The Fountain“ bereits mit dem World Soundtrack Award ausgezeichnet wurde, untermalt auch die teilweise verstörenden Bilder in „High-Rise“ mit minimalistisch bedrohlichen Orchester-Stücken. In den richtigen Momenten wird Popmusik aus der Zeit verwendet – „SOS“ von ABBA beispielsweise gleich zweimal.

 

So entstand also der Thatcherismus?!

 

Der Film endet mit einer Ansprache von Margaret Thatcher, die 1979 Premierministerin des Vereinigten Königreichs wurde und gegen die bis dahin vorherrschenden chaotischen Verhältnisse und die ausgeprägte Streikkultur in Großbritannien vorgehen wollte. Ist „High-Rise“ also die Geschichte der damaligen politischen und gesellschaftlichen Situation „in a nutshell“? Interpretieren kann man in so gut wie jede Szene, in jedes Detail, in jedes Hintergrundelement etwas. Laings Braveheart-Bemalung, die Barock-Party im obersten Stockwerk, das Französischlehrbuch im Supermarkt –  beim ersten Sehen des Films kann man gar nicht alles aufnehmen und richtig einordnen. Aber wer weiß, vielleicht ist das alles doch nur „Style over Substance“? Ein großartig aufspielendes Ensemble, das von seiner Verschrobenheit her stellenweise an den „Twin Peaks“-Cast erinnert, trägt da nicht unbedingt zum klaren Durchblick bei. Doch auch wenn nicht jede Genialität sofort wahrgenommen werden kann, macht es Spaß, dieser selbstgeschaffenen Gesellschaft beim Zerfall zuzusehen.

 

Das Leben außerhalb des Hochhauses spielt keine Rolle mehr. Ein Eingreifen von außen ist von beiden Seiten nicht erwünscht, was sich in einer kurzen Szene mit einer Polizeistreife zeigt. Niemand geht mehr seiner eigentlichen Arbeit nach, da die Bewohner ihre Erfüllung im Klassenkampf innerhalb des Hochhauses finden. Hier können sie direkt eingreifen, ihre Handlungen tragen sichtbare Früchte. Folglich trudeln Mahnungen für Strom und Wasser ein, die Grundversorgung wird mit der Zeit sogar eingestellt. Dann wischt sich die Unterschicht den Schmutz eben mit von der Oberschicht verschmähtem Weißwein aus dem Gesicht. Und wenn es keine Waren mehr im Supermarkt gibt, dann isst die Elite einfach die Haustiere. Hauptsache die Party geht weiter. „High-Rise“ ist ein durch und durch stylischer Film, während dessen Genuss pure Interpretationsfreude aufkommt. Der Film hat zwar seine Längen und verliert gerade im letzten Drittel etwas an Drive, ein großes Highlight des laufenden Kinojahres ist er dennoch.

 

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