Review: Konstantin Richter – Die Kanzlerin: Eine Fiktion
Konstantin Richter taucht in seinem Roman „Die Kanzlerin: Eine Fiktion“ in die Gedankenwelt von Angela Merkel ein. Und obwohl das alles ausgedacht ist, wirkt das Buch aufregend intim.
Auf dem Buchcover ist nur ihr markantes Handzeichen zu sehen, aber das genügt, um sofort eine Assoziation herstellen zu können. Daumen, Zeige- und Mittelfinger werden zusammengeführt und heraus kommt eine Geste, die in umgedrehter Form bereits bei Rapper Jay-Z und Wrestler Daimond Dallas Page funktioniert hat. So charismatisch wie die beiden Entertainer ist die deutsche Bundeskanzlerin zwar nicht, doch faszinierend ist Angela Merkel allemal. So faszinierend, dass Journalist und Schriftsteller Konstantin Richter ein Buch über die Anführerin Deutschlands geschrieben hat. Entstanden ist keine Biografie, sondern ein rein fiktiver Roman.
#merkelstreicht – das denkt die Kanzlerin darüber!
In „Die Kanzlerin: Eine Fiktion“ versucht Richter in den Kopf von Angela Merkel zu steigen und mögliche Beweggründe für ihre gefeierten, aber auch umstrittenen Entscheidungen in Bezug auf die Flüchtlingspolitik herauszuarbeiten. Dabei orientiert sich der Roman zwar an wahren Begebenheiten rund um die Vorfälle in Heidenau und #merkelstreichelt, doch was im Kanzleramt, bei Merkel zuhause im Kupfergraben oder – noch viel wichtiger – in ihrer Gedankenwelt vor sich geht, ist reine Fiktion. Richter ist ein Politikexperte, wurde mehrfach für seine journalistischen Arbeiten ausgezeichnet, weshalb das Erfundene an keiner Stelle absurd klingt.
Richter zeichnet ein bekanntes, fast schon klischeehaftes Bild von Merkel. Sie ist humor- und emotionslos, bemüht freundlich und nicht unbedingt entscheidungsfreudig. Warum sie sich trotz aller Widerstände politisch für eine „Willkommenskultur“ entschieden hat, wird vor allem während ihrer inneren Monologe klar. Dabei geht es um humanitäre Pflichten und Zeichensetzungen. „Wir schaffen das“, predigt sie sich und jedem, der es hören oder auch nicht hören will, immer wieder gebetsmühlenartig vor. Ständig verschwimmen beim Lesen Realität und Fiktion. Der Leser muss sich zusammenreißen, um nicht alles für bare Münze zu nehmen.
Joachim Sauer und Merkel begegnen sich nicht auf Augenhöhe
Die Beziehung zu Merkels Ehemann Joachim Sauer nimmt einen weiteren wichtigen Platz im Roman ein. Dieser leidet unter dem Job seiner Frau, die sich im Laufe der Geschichte eingestehen muss, dass ihre Aufgabe schlichtweg wichtiger ist. Sie hört Sauer, der als erfolgreicher Quantenchemiker und Physikochemiker tätig ist, dennoch bei langen Monologen zu, um ihm das Gefühl zu geben, sie seien auf Augenhöhe. Doch wenn dieser mit seinen eingeschränkten Erfahrungswerten über das Essen eines Berliner Lokals schwärmt, denkt sie an ein viel besseres Kobe-Rindfleischessen in Japan, das Sauer aufgrund der beruflichen Unterschiede niemals erleben wird.
Angela Merkel ist ein Mensch, der in der Realität nicht fassbar wirkt. Wer ist die 1954 in Hamburg geborene und in der DDR aufgewachsene Physikerin? „Die Kanzlerin: Eine Fiktion“ geht auf biografische Schlüsselerlebnisse wie ihre erste Begegnung mit Richard Wagner ein und beleuchtet ihre Lesevorlieben. Wie viel davon Fantasie und wie viel Recherche ist, lässt sich nie mit Gewissheit sagen. Besonders persönlich fühlen sich die Gedankengänge von Merkel an, denn so nah wird man ihr in Wirklichkeit nie kommen. Wenn sie dann noch über die Menschen grübelt, die sie in Heidenau auf das Übelste beschimpft haben, wird das Buch richtig interessant.
Perfekt ist die Kanzlerin nicht
Die Kanzlerin wird als verständnisvoller Häuptling beschrieben, der in allen und allem etwas Gutes erkennen kann. Perfekt wird sie trotzdem nicht dargestellt. Manche Dinge kann sie nicht überschauen, wenn sie beispielsweise die Sinnhaftigkeit ihres jungen Internetbeauftragten in Frage stellt und ihn abschätzig als Praktikanten bezeichnet. Punkte wie dieser können als Richters Statement zur konservativen Politik der Kanzlerin bezeichnet werden. Deutschland ist in Sachen Internet und digitale Medien kein besonders fortschrittliches Land. Merkel machte dies deutlich, als sie 2013 in einer Rede das Internet als „Neuland“ bezeichnete.
Richter versucht eine spannende Geschichte zu erzählen, die leider von der Realität torpediert wird. Er kann Merkel keine sichtbaren Entwicklungen zugestehen, da sich diese mit der tatsächlich existierenden Person beißen würden. Einen unerwarteten Twist im Leben der Kanzlerin kann es dadurch ebenfalls nicht geben. Richter hebt sich all das für Nebenfiguren auf und beschränkt sich bei Merkel auf die Gedankengänge. Hier wird sie von einer mutlosen Mutti der Nation zur energiegeladenen Superheldin, die erst Europa und dann die Welt retten möchte. Damit ist Richter ein Roman gelungen, der sich im Laufe seiner rund 170 Seiten wie ein Seelenstriptease der Kanzlerin liest. Aber Vorsicht: Das ist alles nur Fiktion!
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