Review: Lion – Der lange Weg nach Hause

  Garth Davis hat die Geschichte des Straßenkindes Saroo Brierley verfilmt und damit einen der heißesten Oscarkandidaten des Jahres geschaffen. Dass „Lion: Der lange Weg nach Hause“ Davis‘ Regiedebüt darstellt, ist kaum zu glauben.

 

Laut strassenkinderreport.de gibt es wenig konkrete Zahlen über wohnungslose Minderjährige in Indien. Eine offizielle Schätzung der indischen Regierung aus dem Jahre 1997 geht von 11 Millionen Straßenkindern aus. Nach Annahme unterschiedlicher humanitäre Organisationen sollen heute jedoch mehr als 18 Millionen Kinder in den Städten des Landes ohne Bleibe leben. Sie leiden an Krankheiten und Unterernährung, fristen ein Dasein unter dem Radar der Gesellschaft. Der australische Schriftsteller Saroo Brierley war selbst Straßenkind in Indien. Der damals Fünfjährige schlief in einem fahrenden Zug ein, der erst 1.600 Kilometer entfernt von seinem Heimatdorf in Kalkutta hielt. Ohne Ortskenntnisse und Erinnerungen an den Namen seines Zuhauses ging er in der indischen Metropole verloren. Nach einer Weile wurde er in ein Waisenhaus aufgenommen und zur Adoption freigegeben.

 

Google Earth for the win

 

Er zog nach Tasmanien, wo ihn ein australisches Ehepaar in Obhut nahm und großzog. Als Erwachsener packte ihn die Sehnsucht nach seiner leiblichen Familie jedoch. Mithilfe von Google Earth fing er an, nach Orten und Anhaltspunkten zu suchen, die auf seine Heimat deuten könnten. 2012 schrieb Brierley seine Lebensgeschichte in dem Buch „A Long Way Home“ nieder, deren Verfilmung nun auch in Deutschland unter dem Titel „Lion: Der lange Weg nach Hause“ zu sehen ist. Der noch recht unbefleckte Regisseur Garth Davis zeigt sich für die anspruchsvolle Umsetzung verantwortlich und feiert bereits mit diesem Filmdebüt große Erfolge. In sechs Kategorien – darunter „Bester Film“ – ist „Lion“ bei den Oscarverleihungen 2017 nominiert. Das ist nachvollziehbar, denn der auf wahren Begebenheiten basierende Film ist zutiefst rührend und mit einem guten Auge für die Filmkunst inszeniert.

 

So alptraumhaft sich das riesige Indien für den jungen Saroo angefühlt haben muss, mutet es auch beim Betrachten auf der Kinoleinwand an. Endlose steinige Landschaften, deren einziges Zeichen von Zivilisation Zugschienen sind, treffen auf Klaustrophobie auslösende Menschenmengen in gigantischen Städten. Luftaufnahmen legen ein Zeugnis von der bedrückenden Größe der Welt ab, wodurch ein Verlorengehen leicht nachvollziehbar wird. Wie im Bauch eines Monsters gefangen, versucht sich der vom putzigen Sunny Pawar gespielte Saroo aus dem Zug zu befreien. Garth Davis weiß solche Szenen einzufangen. Die Kamerawinkel lassen die Abteile riesig erscheinen und der Zuschauer kann ahnen wie sich der Protagonist in diesem Gefängnis fühlen muss.

 

Emotional herausfordernd

 

Mit einem harten Schnitt macht die Geschichte einen Sprung von 20 Jahren. Saroo ist ein gutaussehender junge Mann geworden, der von Dev Patel gespielt wird. Getriggert durch Kommilitonen beginnt die Suche nach Familie und Heimat. Rückblenden zeigen, was in den 20 Jahren seiner Abwesenheit mit seiner Familie passiert ist. Doch ob es wirklich so lief oder dies lediglich Saroos Fantasie entspringt, löst sich erst am Ende des Films auf. „Lion“ drückt auf die Tränendrüsen ohne seine Zuschauer mit Hollywoodkitsch zu manipulieren. Emotional herausfordernd sind nicht nur die Dialoge zwischen Ziehmutter Sue (Nicole Kidman) und Saroo, sondern auch der Umgang mit dem zweiten Adoptivsohn Mantosh. Als dieser hinzukommt, kippt die Stimmung. Diesen nahm die Zeit als Straßenkind deutlich stärker mit, was Unruhe in das friedliche Familienleben bringt. Der Zuschauer ertappt sich dabei, den „schwierigen“ Sohn ausschließen zu wollen.

 

„Lion“ zeigt auf, was ein Mangel an seelischer Widerstandsfähigkeit bewirken kann. Während Saroo vom Gedanken an seine liebende Familie getragen wurde und sich nicht unterkriegen ließ, haben Mantosh die schrecklichen Erlebnisse weit mehr gezeichnet. Die daraus resultierende Flucht in den Alkohol wird nicht zum Thema gemacht, sondern durch leere Flaschen beiläufig in die Szenenbilder integriert. Denn nicht nur ein schlüssiges Drehbuch und berührende Schauspielleistungen machen „Lion“ zu einem der Höhepunkte des noch frischen Kinojahres, sondern auch handwerklich bombensicheres Können hinter der Kamera. Newcomer Garth Davis bewirbt sich mit diesem Werk für die ganz großen Jobs. Und Saroo Brierley? Achtung, harter Spoiler: Der lebt noch immer in Tasmanien, kommuniziert aber regelmäßig mit seiner Mutter über das Internet. Dieser hat er ein Haus in Indien gekauft, damit sie keiner körperlichen Arbeit mehr nachgehen muss. Für Saroo gibt es keine Sackgassen mehr.

 

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